Die ganze Welt - ein Tempodrom
"Visa" Nr. 2/04 vom 01.06.2004
Speed-Dating, Internet, Just-in-time-Lieferungen - wir rasen durch das
21. Jahrhundert und werden dabei immer schneller. Von Lust und Leiden an
der Geschwindigkeit. Text: Martin Staudinger
Achtung, das ist eine Warnung: Nach Lektüre dieses Artikels werden
Sie, eine durchschnittliche Lesegeschwindigkeit von 180 bis 200 Wörtern
pro Minute vorausgesetzt, ungefähr sieben Minuten Ihrer wertvollen
Lebenszeit verbraucht haben, damit rund 0,7 Prozent Ihrer wachen Tages-
und 1,4 Prozent Ihrer Freizeit. Sie können sich jetzt noch überlegen,
ob es das wert ist. Aber rasch, die Uhr tickt. Warum ich Ihnen damit komme?
Sie haben es doch eilig, und zwar ziemlich. 52 Prozent der Österreicher
geben an, oft unter Zeitdruck zu stehen, bei den Berufstätigen sind
es gar 64 Prozent.
Die Welt hat gewaltig an Tempo zugelegt. Just-in-time-Lieferungen bringen
Gebrauchsgüter binnen Tagesfrist an ihren Bestimmungsort. Nachrichtensender
berichten 24 Stunden nonstop. Speed-dating-Veranstaltungen machen es möglich
es, innerhalb von Minuten einen Partner zu finden. Das Internet bringt
Kommunikationspartner in Sekundenschnelle über Kontinente miteinander
in Verbindung. Kürzlich schafften es Wissenschafter der TU Wien, ein
Gerät zu konstruieren, das durchaus als die präziseste Stoppuhr
der Welt bezeichnet werden kann. Damit konnten sie das bislang kürzeste
bekannte Zeitintervall des Universums messen: Es dauerte weniger als 100
Attosekunden - und damit nicht einmal halb so lang, wie ein Elektron braucht,
um ein Atom zu umkreisen. Wobei man wissen muss, dass eine Attosekunde
das Milliardstel einer Milliardstelsekunde ist.
Überall wird Zeit eingespart, mit dem seltsamen Effekt, dass trotzdem
niemand genügend davon hat. Zum Beispiel wäre zu vermuten, dass
uns durch allerlei technische Innovationen immer mehr davon zur Verfügung
stehen müsste: Waschmaschine, Geschirrspüler, Mikrowellenherd
- vor zehn Jahren nahm Haushaltsarbeit im Leben der Durchschnittsbevölkerung
noch vier Stunden und sieben Minuten pro Tag in Anspruch. Heute sind es
bereits 21 Minuten weniger. Folgerichtig ist das Ausmaß an Freizeit
größer geworden. Im Jahr 1950 hatten die Österreicher pro
Tag nur eineinhalb Stunden davon zur Verfügung, 1990 waren es bereits
4,1 Stunden.
Man müsste also annehmen, dass der Zeitdruck geringer geworden
wäre. Das Gegenteil ist der Fall. "Wir alle haben das Gefühl,
zu wenig Zeit für uns, zu wenig ,Eigenzeit' zu haben", sagt Helga
Nowotny, die sich als Professorin für Wissenschaftsphilosophie und
Wissenschaftsforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule
(ETH) Zürich mit Zeitforschung beschäftigt. Fragt sich nur: Wohin
verschwindet sie? Nirgendwohin, hat die Wissenschafterin herausgefunden:
"Sie wird umgeschichtet und verdichtet durch die Erfahrung der Beschleunigung.
Wir füllen die gewonnene Zeit mit anderen Tätigkeiten aus, und
die Fülle dessen, was wir alles tun möchten, nimmt ständig
zu."
Als die ersten Zeit sparenden Geräte die Haushaltsarbeit veränderten,
lautete die logische Schlussfolgerung, dass die Frauen (Männer sind
auf diesem Gebiet statistisch immer noch nicht relevant) plötzlich
sehr viel mehr Zeit haben würden. "Stattdessen", sagt Nowotny, "begannen
sie jedoch, die Kinder in die Schule oder zur Klavierstunde zu bringen
und andere familienbezogene Dinge zu organisieren." Zudem, behauptet James
Gleick in seinem Buch Schneller! Eine Gesellschaft auf der Suche nach der
verlorenen Zeit, wird der Tempoeffekt durch den Einsatz von Haushaltstechnik
bei weitem überschätzt: "Ohne Mikrowelle dauert die Essenszubereitung
55 Minuten, mit Mikrowelle 51." Macht matte vier Minuten Zeitersparnis.
Aber egal: Man hat das Gefühl, dass es rascher geht. Und der Selbstbetrug
funktioniert.
Höchstgeschwindigkeit und Beschleunigung des jeweiligen Modells
sind stets zwei der wichtigsten Werbefaktoren in der Autobranche. Der VW
Golf, das meistverkaufte Auto Österreichs, macht in der 102-PS-Variante
locker 184 km/h und ist in 11,4 Sekunden von 0 auf 100. Ein gutes Gefühl,
so schnell sein zu können. Da stört es auch nicht, dass die tatsächliche
Durchschnittsgeschwindigkeit im innerstädtischen Verkehr in Wien unter
20 km/h liegt. Auch auf der Autobahn sind im Schnitt kaum mehr als 100
km/h drinnen, weil so viele Lenker gleichzeitig möglichst flott von
A nach B kommen wollen, dass sie sich gegenseitig bremsen. "Nach mehr als
hundert Jahren Irrtümern stehen wir heute vor der ernüchternden
Erkenntnis, dass Beschleunigung im physischen Transport keine Zeiteinsparungen
bewirkt, sondern nur Veränderungen im Raum, den wir für vermeintlich
eingesparte Sekunden opfern", analysierte Hermann Knoflacher, Verkehrsexperte
und Professor an der Technischen Universität Wien, kürzlich im
Rahmen eines Symposions.
Kein Wunder, dass oft gar nichts mehr geht: 360 Millionen Staustunden
jährlich registrierte der ÖAMTC bereits Ende der 1990er-Jahre
auf Österreichs Straßen. Demnach verbrachte jeder Staatsbürger
pro Woche rund eine Stunde in einer stillstehenden Autokolonne. Macht auch
nichts. Seit es Handy und Freisprechanlage gibt, kann man die Wartezeit
ja anderweitig nutzen, ein paar Anrufe erledigen, sich vielleicht sogar
per Laptop ins Internet einklinken. Multi-Tasking nennt Zeitforscher Gleick
das - eine Unart, die bereits alle Lebensbereiche durchzieht: gleichzeitig
telefonieren, E-Mails beantworten und noch mit einem Auge auf den Fernseher
schauen, wo - nehmen wir nur den Nachrichtensender n-tv - nicht nur Moderatoren
zu sehen sind, sondern auch zwei Leisten, über die mit unterschiedlicher
Geschwindigkeit Textmeldungen, Wetterdaten und Börsenkurse flitzen.
"Der Sog", resümiert Zeitforscherin Nowotny, "ist ein doppelter
geworden: Bei der Arbeit und in der Freizeit wollen wir - oder sollen wir
- immer mehr leisten und besser werden. Daraus resultiert das Gefühl,
dass wir uns selbst immer ein Stück weit voraus sein müssen,
was sich als Zeitmangel und als Zeitkonflikt äußert." Der allgemeine
Temporausch schlägt sich sogar auf Politikeransprachen nieder: Vor
einigen Jahren wurde im österreichischen Parlament anhand der stenografischen
Protokolle eine empirische Untersuchung über die Veränderung
der Redegeschwindigkeit durchgeführt. Richtig geraten: Die Mandatare
sprechen heute schneller als früher - und zwar unabhängig vom
Inhalt.
Und der so genannte "Bund fürs Leben" hat auch eine immer geringere
Halbwertszeit: Nur durchschnittlich 9,5 Jahre dauert es in Österreich,
bis eine Ehe in die Brüche geht. Das ist bei nahezu 50 Prozent der
Fall.
"Das Bewusstsein, dass eine Partnerschaft auf eine - allerdings unbekannte
- Dauer angelegt ist und in Trennung enden kann, hat jedenfalls zugenommen",
sagt Nowotny. "Statistisch gesehen nehmen serielle Partnerschaften an Häufigkeit
zu - ein Trend, der sich mit der höheren Lebenserwartung sicher fortsetzen
wird." Wobei letztere keineswegs zu mehr Gelassenheit führt: "Die
Tatsache, dass uns insgesamt bedeutend mehr an Lebenszeit zur Verfügung
steht als früheren Generationen, stillt unseren Hunger nach Zeit nicht,
sondern scheint ihn nur zu verstärken", hat die Zeitforscherin herausgefunden.
Tempo: ein Wert an sich, die Selbstbestätigung des modernen Menschen.
259 Rekorde zum Thema Geschwindigkeit hat das Guinness-Buch der Rekorde
auf seiner Homepage im Angebot (ärgerlich: man sieht sie nicht gleich
alle auf einen Blick, das kostet Zeit) - darunter bizarre wie jenen von
Dustin Phillips aus Topeka, Kalifornien, der im September 1999 binnen 33
Sekunden 364 Gramm Tomatenketchup durch einen Strohhalm trank. Ein sinnloses
Unterfangen, keine Frage. Andererseits: Hat es denn mehr Sinn, den Weltrekord
im 100-Meter-Sprint (9,78 Sekunden, aufgestellt vom US-Leichtathleten Tim
Montgomery im Jahr 2002) immer weiter verbessern zu wollen? Und geht das
überhaupt noch? "Unter moralisch vertretbaren Bedingungen nicht",
sagt Paul Haber, Sportmediziner an der Universitätsklinik im AKH.
"Die bestehenden Weltrekorde zu brechen ist ohne den Einsatz von Anabolika
nicht mehr möglich. Man müsste schon Frankenstein spielen und
Genmanipulationen vornehmen, um Sprinter noch schneller zu machen."
Irgendwo stößt letztlich alles an die Grenzen des Menschlichen,
auch die Technik. Als Elisha Otis 1857 den ersten Personenaufzug der Welt
konstruierte, legte der gerade einmal 20 Zentimeter pro Minute zurück.
Heute schießen Expresslifte mit neun, manchmal sogar zwölf Metern
pro Sekunde in die Höhe. Flotter geht es einfach nicht: Im Sears Tower
in Chicago musste die Geschwindigkeit der Aufzüge verringert werden,
nachdem einigen Passagieren die Trommelfelle geplatzt waren. Denken Sie
daran, wenn Sie das nächste Mal vor einem Lift stehen und zum siebten
Mal auf den Rufknopf drücken, weil die Kabine nicht und nicht einschweben
will.
Und wenn Sie im Internet surfen, wo die Zeit "scheinbar aufgehoben ist"
(Nowotny), dann schauen Sie vielleicht einmal auf die Homepage des "Vereins
zur Verzögerung der Zeit". Dort beschäftigen sich einige kluge
Köpfe mit der Frage, wie man der allgemeinen Hetze entfliehen kann.
Damit es auch noch schneller geht, hier die Adresse: http://www.zeitverein.com/
Versprochen: Es dauert nur ein paar Sekunden!
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